Neulich ist in Tadschikistan ein Buch erschienen – »Die schönsten Beispiele der deutschen klassischen Literatur« – eine Anthologie der von Sherali Rakhimov aus der deutschen Sprache ins Tadschikisch übertragene Werke der großen deutschen Klassiker. Sherali Rakhimov hatte sich im Leben einer sehr interessanten und nützlichen Arbeit gewidmet, nämlich der Übersetzung der deutschen Literaturwerke in seine Muttersprache - Tadschikisch (Altpersisch). Einige seiner Übersetzungen von Goethe und Lessing und die Novellen von Gottfried Keller und Theodor Storm wurden bereits vorher in Form kleiner Bücher veröffentlicht. »Anthologie der Beispiele«, die sämtliche von Sherali Rakhimov übertragenen Werke beinhaltet, wurde zu unserem großen Bedauern nach seinem Tode veröffentlicht.
Nach dem Abschluss der Fakultät für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Universität zu Duschanbe 1966 hatte Sherali Rakhimov lange Jahre als Reiseführer-Dolmetscher im System »Intourist Tadschikistan« gearbeitet. Nach der Eröffnung der Botschaft der Republik Tadschikistan in Deutschland 1994 war er als II. Sekretar mit Schwerpunkt Kultur und Übersetzer/Dolmetscher mehr als 10 Jahre tätig gewesen.
Gelegentlich erinnerte er sich mit Dankbarkeit an seine ehrwürdige Deutschlehrerin in der Mittelschule, eine von zirka 40. Tausend Deutschstämmigen, die bis 1991 in Tadschikistan gelebt hatten. Von ihr hatte er zum ersten Male über Goethe, Schiller und Heine erfahren. Einmal hat die Lehrerin die Gedichte aus dem »West-Östlichen Divan« vorgelesen, und er dabei den ihm vertrauten und lieben Namen von Hafiz vernahm– dem persisch-tadschikischen klassischen Dichter, der von dem Autor von »Faust« besonders verehrt wurde: »Hafis, mit dir, mit dir allein, will ich wetteifern...« (Gedicht Goethe »Unbegrenzt«). Dies hatte Sherali Rakhimov dafür sensibilisiert, die Werke des deutschen Klassikers in die Sprache seines Verehrers zu übertragen.
Später an der Universität begann er einzelne Gedichte von Goethe und Heine, Fabeln von Lessing ins Tadschikische zu übersetzen. Leider kamen seine Übersetzungen in den lokalen Zeitungen sehr selten in Erscheinung. Während in der Sowjetzeit offiziell die Förderung der nationalen Kulturen proklamiert wurde, wurden die Übersetzungen ins Tadschikische als überflüssig betrachtet, denn die analogen Übersetzungen lagen bereits in russischer Sprache vor.
Es sind 20 Jahre vergangen bis Sherali Rakhimov gelungen wurde seine langersehnten Wunsch zu realisieren. In dem Verlag »Adib« der Stadt Duschanbe ließ er 1996 zwei kleine Bücher veröffentlichen, nämlich die Übersetzungen »Die Leiden des jungen Werthers« und Auszüge aus dem »West-Östlichen Divan« von Goethe, »Emilia Galotti« von Lessing und eine Auswahl seiner Fabeln.
2002 wurde ein anderes Buch des tadschikischen Enthusiasten veröffentlicht. Es beinhaltet die Übersetzungen der deutschen klassischen Novellen »Kleider machen Leute« von Gottfried Keller und »Immensee« von Theodor Storm. »Odamu libos«– so heißt auf Tadschikisch Name der von Sherali Rakhimov übersetzten Novelle von Keller. Buchstäblich bedeutet es »Bekleidung des Menschen«, was auf den ersten Blick das genaue Wortspiel des Originals nicht wiedergibt. Das ist aber auf ersten Blick so. Es geht jedoch darum, dass die wortgetreue Übersetzung dem tadschikischen Leser eher unklar geblieben wäre, wenn ihm die von Keller ausgespielte Szene aus den Zeiten von Hodscha Nasreddin – populären Held der morgenländischen Volkskunst – nicht bekannt wäre. »Eines Tages kam Hodscha Nasreddin an einem Haus vorbei, in dem Hochzeit gefeiert wurde, und wollte gerne auch an der Festtafel Platz nehmen. Aber da seine Kleidung alt und unscheinbar war, nahm niemand von ihm Notiz, und man ließ ihn einfach stehen. Nasreddin ging nach Hause, zog seinen schönsten Pelz an und kehrte ins Hochzeitshaus zurück. Diesmal wurde er sogleich ehrerbietig begrüßt und erhielt einen Platz am Kopf der Tafel. Als das Essen gereicht wurde, aß der Hodscha nichts, sondern bot die Speisen seinem Pelz an und sagte: »Iß, mein Pelz, iß!« Das verwunderte die anderen Gäste und sie fragten: »Hodscha, warum ißt du nicht, sondern bietest die Speisen deinem toten Pelz an?« Da erzählte er, wie es ihm bei seinem ersten Kommen ergangen war, und sagte: »Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem Pelz, also soll er auch essen!«.
Wahrscheinlich ist seitdem unter Tadschiken die Redensart »Odamu libos – khonavu palos« – »Bekleidung des Menschen ist wie Teppisch im Hause« üblich. Für solche Nuancen hatte Sherali Rakhimov besonders feines Gefühl. Seine Übersetzungen sind professionell gemacht und ich bin vollkommen sicher, dass seine Arbeiten von den Lesern in weit gelegenem Bergland Tadschikistan hoch anerkannt werden.
Eine der letzten Arbeiten von Sherali Rakhimov war ein kleines Buch – Übersetzungen der Weisheiten und Sprüche der deutschen Klassiker und eine Vielzahl von deutschen Sprichwörtern »Namunae chand az pandu andarzho, masal va zarbulmasalhoi olmoni«, das er mir mit einer Widmung 2008 übermittelt hatte.
Vorliegende »Anthologie« beinhaltet alle oben erwähnten Arbeiten und einige noch nicht veröffentliche Texte wie z. B. die übersetzten Gedichte von Heinrich Heine und Erzählungen und Weisheiten von Friedrich Rückert sowie eine Abhandlung des Übersetzers von berühmten Omar Khajjam – Friedrich Rosen, Heinrich Böll u.a.
Die Arbeit des Übersetzers verdient große Anerkennung. Er hat es nicht nur für die Gegenwart sondern auch für die Zukunft der Repubik geschaffen. Mit Rücksicht auf die Logik der Weltentwicklung glaube ich, dass für die kommenden Generationen dem Aufbau der kulturellen Verbindungen zwischen den Völkern ebenfalls besondere Bedeutung beigemessen werden sollte wie den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen.
Der Traum des Übersetzers, der sich während der schwierigen Zeiten seiner Heimat mit der wichtigen Arbeit, nämlich Entwicklung der kulturellen Beziehungen beschäftigt hatte, eine Anthologie der deutschen klassischen Literatur auf Tadschikisch vorzubereiten und herauszugeben, wurde von seinem Sohn, Navruz Rakhimov, verwirklicht. Es kommt mir bei der Erwähnung von Sherali Rakhimov sehr schwer an die Verbe in Vergangenheit zu verwenden. 2010 kam eine traurige Nachricht über den frühen Tod des bekannten Übersetzers und Literaten.
Ich möchte jedoch zum Trost aller Sherali Rakhimov persönlich bzw. durch seine interessanten Arbeiten gekannten Personen mitteilen, dass er den Lesern in beiden Ländern nützliche Bücher hinterlassen hatte. Damit wird er in angenehmer Erinnerung bleiben. Die Veröffentlichung seiner »Anthologie« ist gleichzeitig ein gutes Geschenk zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit von Tadschikistan, die am 09. September dieses Jahres gefeiert wurde.
Alexander Heiser
Berlin, 12. Oktober 2011