Es war an jenem regnerischen Sonntag im Jahre 1922 auf dem Hauptbahnhof in Berlin menschenreich und laut. Klänge einer unbekannten fremden Sprache, einer vielstimmigen Menschenmenge, das Vorbeisausen zahlloser Züge, die Ausrufe der Brezel- und Blumenhändler betäubten den Jungen, der zusammen mit einer ganzen Gruppe ähnlicher Halbwüchsiger wie er, aus dem Zug Moskau-Berlin stieg. Blicke der Passanten verweilten eine Zeitlang auf der Kleidung dieser Kinder. Ähnliches war ihnen auch in dem offenen und erlebnisreichen Berlin noch nicht begegnet.
Rahim zog sich vor der ungewohnten Kälte zusammen, einige neugierige Blicke vorübergehender Damen und Herren verweilten kurz auf ihm - alle schienen dem Jungen mit ihrem Aussehen nicht niedriger als dem Rang eines russischen Gouverneurs gestellt oder noch irgendeines wichtigen Beamten - und unwillkürlich zog er seinen Kopf ein und verbarg sich unter dem übereinandergelegten Stoff seines grünen, traditionellen Langmantels. Der Leiter der Gruppe gab ihm ein Zeichen näher zu kommen. Schon eilte ihnen ein Mann entgegen, der sein Schicksal im fernen, fremden, überwältigenden "Alemanii" bestimmen sollte...
Diese Gruppe Kinder aus der Sowjetrepublik Buchara, die es zu jener Zeit gab und noch bis 1924 gegeben hatte, brachte der damals in Mittelasien bekannte Reformer, Aufklärer und Schriftsteller Munsim (1875-1934) nach Deutschland. Sein richtiger Name lautete Mirso Abdulwohid Burhon-sade, Munsim war sein (literarisches) Pseudonym. Munsim war der Sohn eines reichen Kaufmanns. Dieser betrieb einen Handel mit Karakul-Persianern, hergestellt aus dem klein gelockten Fell der Lämmer des Karakulschafes, und war als Verleger in Kagan tätig. Mit Munsim wuchs einer der gebildetsten Menschen Mittelasiens jener Zeit heran. Er konnte Arabisch und Persisch, Englisch, Russisch (sein Vater hatte damals Handelsbeziehungen mit Rußland) und Deutsch. Er war ein Freidenker, dem Vieles wegen seiner Nähe zum Hof des Emirs verziehen wurde. Darunter auch, daß er der bürgerlich-reformerischen Bewegung der bucharischen Dshadiden angehörte und die erste weltliche, dshadidische Schule Mittelasiens in Samarkand gründete. Nach der Ausrufung der Sowjetrepublik Buchara wurde Munsim stellvertretender Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der UdSSR (WZIK), Gesundheits- und Bildungsminister. Im Jahre 1922 brachte er als Botschafter der Bucharischen Volksrepublik in Deutschland eine Gruppe Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren zum Schulunterricht nach Deutschland, in eines der fortschrittlichsten Länder Europas.
In der Gruppe waren die zwei Söhne Munsims, der zwölfjährige Rahim und der achtjährige Raschid, und Schohmurod Olim, einen der Söhne von Olim-Chan, des Emirs von Buchara, dem es nicht mehr gelang, seinen Sohn vor den Bolschewiken nach Afghanistan in Sicherheit zu bringen.
Die Kinder wurden auf unterschiedliche Schulen Berlins und naheliegender Städte verteilt. Einige Wohnorte und Schulen konnten mit Hilfe von Diplomarbeiten von Studenten des Zentralasienseminars der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Lutz Rzehak festgestellt werden. Rahim Burchanow, der Sohn Munsims, und Schohmurod Olimow, wie der Sohn des Emirs von Buchara nun genannt wurde, lernten eineinhalb Jahre in der deutschen Hauptstadt. Die beiden Freunde wurden voneinander getrennt, als Rahim und weitere 15 Kinder nach Pommern in die Stadt Köslin geschickt wurden. Rahim lernte so erfolgreich, daß er den vierjährige Lehrplan des Gymnasiums innerhalb von 2,5 Jahren beendete. Unentwegt wurde ihnen die deutsche Sprache zu eigen gemacht, sodaß beide sie perfekt sprechen konnten.
Alles gab es in diesen Jahren - die ewige Freundschaft und die erste Jugendliebe. Warum sollte es sie auch nicht geben, wenn man 16 – 17 Jahre alt ist und in den Adern stürmisches, von der Sonne Mittelasiens heißes Blut fließt... obzwar er das nirgends erwähnt hat, auch nicht in seinen Tagebüchern.
Die Kinder kehrten nach ihrer Ausbildung in einen ganz anderen Staat zurück, als jenen, den sie einmal verlassen hatten. Verdächtig waren auf einmal Menschen, die etwas mit dem Ausland zu tun hatten, geschweige von denen, die dort so lange gelebt hatten. Verschiedenartig gestaltete sich das Schicksal dieser Jungen in der Zukunft. Rahim Burchanow und sein Bruder Raschid kehrten nicht mehr nach Buchara zurück – die Volksrepublik Buchara existierte schon nicht mehr. Sie fuhren vielmehr nach Duschanbe, wohin ihr Vater Munsim entsandt wurde, um einen Schriftstellerverband in Tadschikistan aufzubauen. Auf Drängen des Vaters begaben sie sich nach Leningrad, wo sie von 1927 bis 1928 die sogenannte „Petersschule“, eine deutschsprachige Schule, beendeten. Der Wunsch ihres Vaters war es, aus ihnen vornehme, hochgebildete Menschen zu machen. Im folgenden sollte der Weg Rahims sich ein weiteres Mal mit dem Schicksal des Sohnes des bucharischen Emirs kreuzen. Sie studierten gemeinsam an der Hochschule in der Akademie für Militärtechnik (militärische Bautechnik) namens Kujbyshew. Nach dem Abschluß arbeiteten sie als Ingenieure für Militärwesen. Schohmurod, der zu jener Zeit dazu gezwungen war, seinem Vater, der des Verbrechen gegen das Volk schuldig gesprochen war, einen „Offenen Brief“ zu schreiben, in dem er sich von seinem berühmten Vater abwandte, wählte die militärische Laufbahn. Die sowjetische Propagandamaschinerie funktionierte. Er erreichte in der Roten Armee den Rang eines Generals, führte Krieg, wurde schwer verletzt, verlor ein Bein und verstarb in den 50er Jahren an der letzten an der Front erlittenen Verletzung.
Munsims Sohn Rahim wurde erst nach Suchumi und später nach Batumi geschickt, um dort unter seiner Bauleitung Pontonbrücken errichten zu lassen. In seinem Diplom - zu erwähnen sei, daß er seine Diplomarbeit auf Deutsch verfasste - steht, er kenne die deutsche Sprache in höchster Vollkommenheit.
Irgendjemand erinnerte sich in Duschanbe an ihn, und Rahim Burchanow wurde nach Tadschikistan geholt. Arbeit in seinem Beruf gab es nicht, er war gezwungen, als Bauleiter bei den örtlichen Wasserbetrieben zu arbeiten und lehrte Chemie und natürlich Deutsch in den dortigen Schulen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden Gelehrte aus Moskau und Leningrad nach Mittelasien evakuiert. Unter ihnen der Professor Wladimir Aleksandrow aus Sankt-Petersburg, der nach Duschanbe geschickt wurde und dort den Lehrstuhl für Deutsch leitete. Der damalige Rektor des Pädagogischen Institutes in Duschanbe, Ofir Schukurow, erzählte Aleksandrow von Rahim Burchanow und darüber, daß er in Deutschland studiert hatte. Der Professor aus Leningrad lud den jungen Mann zu einem Gespräch ein. Nach der Unterhaltung sagte der ehrwürdige Professor anerkennend: "Ihn kann man von einem echten Deutschen nicht unterscheiden." Er nahm Rahim an den Lehrstuhl für die deutsche Sprache auf, dem dieser von da an fast sein ganzes Leben verbunden sein würde, aber auch nur fast.
Im Mai 1943 ist Rahim Burchanow verschwunden.
Dieses Material begann ich vor etwa einem Jahr nach den Erzählungen eines Schülers Burchanows aufzuschreiben - dem Dozenten für die deutsche Sprache am Pädagogischen Institut in Duschanbe, Chajrullo Sajfullaew, doch sogar er kannte damals jene Details der Biographie des Lehrers nicht, welche vor kurzem in der tadschikischen Zeitung "Dschawononi Todschikiston" ("Jugend Tadschikistans") in dem Artikel "Hauptsturmführer der SS Rahim Burchanow. Ich blieb meiner Heimat treu" von Nurali Dawlatow veröffentlicht wurden. An Burchanow als Kenner der deutschen Sprache erinnerten sie sich dieses Mal in Moskau, holten ihn zur sowjetischen Aufklärung und schickten ihn nach Deutschland.
In der Uniform eines sowjetischen Offiziers überquerte er die Frontlinie und ergab sich den Faschisten, um seine Aufgabe als sowjetischer Aufklärer erfüllen zu können. Er wurde in die "Turkestanischen Legion" aufgenommen, wo er den Rang eines Hauptsturmführers der SS erlangte. Im Frühjahr 1945, während der Einnahme Berlins, nahm er Kontakt mit den sowjetischen Truppen auf, wurde nach Moskau geschickt und mit dem Orden "Für Tapferkeit", "Für den Sieg über Deutschland" und einer Geldprämie von 1.000 Rubel ausgezeichnet.
Rahim Burchanow kehrte nach Stalinabad, dem damaligen Namen Duschanbes, zur Lehrtätigkeit am Pädagogischen Institut zurück. Darüber, was er in den vorangegangenen Jahren getan hatte, erzählte er niemandem. Nach einigen Monaten erfolgte eine Vorladung nach Moskau und eine neue Dienstreise nach Deutschland für eine Gegenüberstellung im Hauptquartier mit ehemaligen Mitgliedern der "Turkestanischen Legion". Für ihn endete das alles sehr schlecht. Zu Unrecht bezichtigt der gleichzeitigen Zusammenarbeit mit deutschen, amerikanischen und englischen Spionen, erhielt Burchanow eine Strafe von 10 Jahren, welche er zwischen 1949 und 1956 abbüßte, während er in Workuta bei der Eisenbahn arbeitete - seine Gesuche sowie der Brief seiner Mutter an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Kliment Woroshilow, brachten eine Revision der Angelegenheit und die Freilassung des ehemaligen Aufklärers Burchanow. Nach seiner Entlassung fuhr er nach Moskau zu seinem nahen Freund, Schohmurod Olimow, zwei Tagen später begleitete er ihn zum Zug nach Stalinabad, er ermöglichte ihm seine Rückreise. Das war das letzte Wiedersehen, sich länger oder nochmals zu treffen, war den beiden nicht beschieden. Und Rahim, wie Nurali Dawlatow schreibt, reiste nirgendwohin mehr "weder für das Studium noch in dienstlichen Angelegenheiten eines Spions......".
Schüler Burchanows, unter ihnen Scherali Rachimow, Übersetzer der Botschaft der Republik Tadschikistan in der BRD, und X. Sajfullaev, erzählten, daß Burchanow ein echtes Vorbild für seine Schüler war. Immer korrekt und ausgeglichen, klar in Gesprächen und genau bei Erklärungen – so blieb er bis ins hohe Alter. Lange Jahrzehnte arbeitete er am Lehrstuhl, erzog hunderte talentierter Schüler. Im Studium bevorzugte er die "direkte" Methode des Sprachunterrichtes. In den Lehrveranstaltungen sprach er nur deutsch, auch Erläuterungen gab er nur auf deutsch. Für Vergleiche zwischen den Sprachen und um die Aussprache so zu verbessern, daß das den Studenten im Gedächtnis haften bleibt, dachte er sich viele lustige Sachen auf tadschikisch aus, die sich für das ganze Leben einprägten. In der Familie Burchanows gab es eine interessante Tradition - alle Gespräche wurden auf deutsch geführt. Das zeitigte seine Erfolge: Die Tochter Saida beendete die Fremdsprachenfakultät mit Auszeichnung und wurde Lehrerin der Fachrichtung deutsche Sprache an der Universität. Der Sohn Sarif, der die deutsche Sprache ebenso ausgezeichnet beherrschte, kam während des Bürgerkrieges in Tadschikistan in den 90er Jahren gewaltsam ums Leben. Nur die Mutter des Lehrers konnte die deutsche Sprache nicht. Mit ihr sprach er in seiner tadschikischen Muttersprache. Burchanow hinterließ eine große Zahl ihm ergebener Schüler, aufrichtig die deutsche Sprache liebend. Scherali Rachimow wählte außer der Übersetzertätigkeit für sich die Aufgabe der Übertragung deutscher Klassiker ins Tadschikische. Es blieben auch noch unveröffentlichte Arbeiten Rahim Burchanows zurück: die handschriftlichen Manuskripte "Grammatik der deutschen Sprache", "Phonetik der deutschen Sprache" und "Lehrbuch für den Selbstunterricht der deutschen Sprache für Tadshiken".
Die Arbeit des talentierten Pädagogen hat erst in der letzten Zeit eine entsprechende Anerkennung erhalten. Vor nicht allzu langer Zeit wurde der 90. Jahrestag Burchanows begangen, zu dem auch Gäste aus der Humboldt-Universität zu Berlin gekommen waren.
...ein bejahrter Mann aufrechter Haltung mit schneeweißem, dichtem und gescheiteltem Haar, nachdenklich einen Punkt auf der von ihm soeben geschriebenen Seite setzend. Seiner Arbeit hat er sein Leben und seine Lebensjahre gewidmet. Seufzend. Nachdenklich versunken. Auf den Jungen auf dem Berliner Bahnhof verloren zurückblickend: anstelle der vierzig usbekischen und tadschikischen Kindern stehen neben ihm eine winzige Gruppe gealterter Menschen. Nur mit Mühe kann er in ihren Gesichtern die Züge seiner Gefährten erkennen, viele von ihnen sind nicht erschienen. „Es fehlen Suchrob und Ismail und noch jemand“, dachte er. „Sie wurden in 1937er Jahren erschossen, Olim ist verstorben, jene zwei, an deren Namen er sich schon nicht mehr erinnern kann, kamen irgendwo bei Königsberg ums Leben.“ Der Kopf Rahims neigte sich über den Schreibtisch. Das Bild wurde schwächer, verschwamm immer mehr ... Rahim Burchanow starb an seinem Scheibtisch im November 1973. Das Manuskript, über dem er gerade arbeitete, war ein Deutsch-Tadschikisches Wörterbuch.
Eine der Hauptarbeiten Rahim Burchanows, das Deutsch-Tadschikische Wörterbuch hatte er fast beendet. Es enthielt fast 10.000 Wörter. Gerade haben Schüler und Nachfolger Burchanows die Arbeit an diesem Wörterbuch unter Mithilfe der Humboldt-Universität zu Berlin wiederaufgenommen. Der Umfang soll auf 20.000 Worte auf Grundlage des Wörterbuchs von Daum-Schenk und Groß erweitert werden, wovon aber erst 60 Prozent fertiggestellt werden konnten. Von Seiten der Humboldt-Universität zu Berlin beteiligt sich Prof. Dr. Lutz Rzehak und die Mitarbeiterin des Zentralasienseminars der Humboldt-Universität, Barno Oripowa aus Duschanbe. Der DAAD unterstützt die Verwirklichung, indem der bilaterale Austausch mit tadschikischen Universitätsangehörigen durch Reisen nach Berlin ermöglicht wird. Genaueres über das Projekt und seine Beteiligten berichten wir ein anderes Mal.
Alexander Heiser
Deutsche Übersetzung von Scherzod Burchanov
Auf den Bildern:
in diesem Alter wurden die Freunde aus Mittelasien in das weitentfernte „Alemanii“ gebracht;
Rahim Burchanow an seinem Arbeitsplatz;
Rahim und sein Freund, der Sohn des burcharischen Emirs, Schohmurod Olim während ihrer Schulzeit in Berlin.